„Lehrer werden richtiggehend gebasht“

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hält es für unverantwortlich, alle Schüler nach den Ferien wieder in die Schule zu schicken. Die Vorsitzende Marlis Tepe beobachtet, wie sich die Stimmung gegen die Lehrer wendet.

WELT: Frau Tepe, wird die Corona-Krise Schule für immer verändern?

Marlis Tepe: Ich habe sogar die Hoffnung, dass das passiert. Die Gesellschaft reagiert hoffentlich auf die Defizite in unserem Schulwesen, die jetzt so überdeutlich geworden sind. Sie muss hier Abhilfe schaffen. Die Lehrkräfte und Schulleitungen müssen ihrerseits erkennen, dass sie ihre Unterrichtskonzepte mit Blick auf die Digitalisierung verändern, nachjustieren müssen. Wir müssen an den Schulen mit den Schülerinnen und Schülern die Krise aufarbeiten. Und wir müssen unser Verhalten bei Infektionen ändern und nicht krank in die Schule kommen und andere anstecken. Dieser Präsentismus war immer schon falsch.

WELT: Lehrer haben sich in der Krise in hoher Zahl krankgemeldet, die Vereinigung der Kinder- und Jugendärzte hat dies beklagt. Waren sich die Pädagogen ihrer Verantwortung nicht bewusst?

Tepe: Diesen Eindruck kann ich nicht bestätigen. Bei der Schulöffnung in Sachsen sind aktuell gerade einmal neun Prozent der Lehrkräfte nicht in die Schule gekommen. Das ist eine sehr geringe Zahl, wenn man bedenkt, dass die Kollegien in dem Bundesland einen hohen Altersdurchschnitt haben. Ich hätte mit 20 bis 30 Prozent gerechnet.

Lehrerinnen und Lehrer wollen in die Schule, sie identifizieren sich mit dem Beruf und engagieren sich bestmöglich für die ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler – oft bis ans eigene Limit. Aber sie müssen Maßnahmen gegen die Pandemie wie wir alle beachten.LESEN SIE AUCH

WELT: Aber haben viele Lehrer die Eltern mit der Beschulung ihrer Kinder nicht alleingelassen, nur ab und zu Material geschickt?

Tepe: Ich beobachte mit einiger Sorge, dass die Lehrerinnen und Lehrer zu Beginn der Krise stark wertgeschätzt wurden, aber inzwischen von vielen Seiten richtiggehend gebasht werden. Offenbar geben einige Eltern den Druck, unter dem sie selber wegen der objektiv sehr schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie stehen, an die Lehrkräfte weiter. Die Eltern sollten besser Druck auf die Schulträger, die Kommunen, die Länder und den Bund machen, damit in Zukunft für eine gute öffentliche Bildung gesorgt wird. Lehrerbashing löst kein Problem. Sondern schafft neue, indem sich vielleicht noch weniger junge Menschen entscheiden, diesen wichtigen Beruf zu ergreifen.

WELT: Also haben alle Lehrer ihr Bestes getan?

Tepe: Wir haben als Gesellschaft schon zuvor etwas versäumt. Es ist doch unstrittig, dass der Fernunterricht ohne Vorwarnung und Vorbereitung kam. Niemand war darauf eingestellt, das wurde nicht geübt. Die Schule, an der ich lange unterrichtet habe, erfuhr Freitagnachmittag, dass die Schule ab Montag geschlossen wird.

Es gibt Schulen, die digital überhaupt nicht ausgestattet sind, Kolleginnen und Kollegen mussten oft ohne Endgeräte, ohne WLAN, ohne Lernplattform, ohne Schulcloud arbeiten. Es gab an vielen Schulen Eltern und Kinder, die am offenen Fenster ausgedrucktes Material abgeholt haben, weil sie keine Rechner oder Drucker zu Hause hatten. Es ist unfair, für alle diese Probleme und Defizite die Lehrkräfte verantwortlich zu machen. Die Corona-Krise hat vielmehr systemische Defizite offengelegt.LESEN SIE AUCH

WELT: Welche?

Tepe: Den Lehrermangel, die hygienischen Missstände, die schlechte Gebäudeausstattung, die maroden Schulen, den Mangel bei der Digitalisierung, die Probleme der Gruppengrößen, die Nöte sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler. An vielen Schulen gibt es kein warmes Wasser. Die Hygiene an den Schulen wurde lange vernachlässigt.

Wir haben die Rückmeldung, dass sich die Schülerinnen und Schüler in den aktuell existierenden kleineren Klassen wohler fühlen, dass sie stärker den Lehrkräften zugewandt sind, konzentrierter arbeiten. Wenn die Gesellschaft will, könnte sie für kleinere Klassen sorgen. Und damit das Betreuungsverhältnis verbessern. Das gilt auch für die Kitas.

Man muss ja eines sehen: Wir hätten in der Corona-Zeit gar keine Debatte über die Kita-Nutzung und Regelbeschulung, wenn wir in Deutschland nicht diese großen Gruppen hätten, die oft in sehr kleinen Räumen stundenlang zusammen sind. Epidemiologisch ist das jetzt ein Problem, aber solche Dinge sind auch pädagogisch ein Problem, weil eine gute Lernumgebung anders aussieht. Wären die Gruppen kleiner, wäre das Betreuungsverhältnis besser, hätten wir viel früher wieder in den Schulbetrieb einsteigen können.

WELT: Die Chefin der Kultusministerkonferenz will wegkommen vom Abstandsgebot in den Schulen. Auch Berlin und Brandenburg kehren nach den Ferien zum Normalbetrieb zurück. Haben sie Ihre Unterstützung?

Tepe: Solange die Gesellschaft entscheidet, dass in anderen Bereichen des Lebens Sicherheitsabstände einzuhalten sind, kann es keinen Regelbetrieb der Schulen geben. Ich halte das für sehr gefährlich und fürchte, dass Schulen zu Hotspots werden. Wer Abstände und Präsenz fordert, der muss die Voraussetzungen schaffen, muss für den Zeitraum genügend Lehrkräfte anwerben, notfalls auch zeitlich begrenzt Studierende, die noch kein Examen haben, muss zusätzliche Räume anbieten. Stellen Sie sich mal große berufliche Schulen mit 2000 Schülern vor, die großen Gesamtschulen, die Gymnasien mit 1500 Leuten. Das Risiko ist da doch offensichtlich.LESEN SIE AUCH

WELT: Im Konjunkturpaket der Bundesregierung wurde ein Familienbonus von 300 Euro je Kind und Familie vorgesehen. Wäre das Geld nicht im Bildungsbereich besser investiert gewesen?

Tepe: Ich stelle diese Maßnahme nicht infrage. Das Geld kommt Eltern zugute, das halte ich für richtig. Aber das darf uns als Gesellschaft nicht hindern, das Nötige zu tun. Der Bildungsbereich steht in dem Paket nicht im Zentrum. Da gehört er aber hin, wir brauchen eine Priorität für Investitionen in Bildung. 44 Milliarden Euro beträgt allein der Investitionsrückstand bei der Renovierung von Schulgebäuden. Für die Digitalisierung bräuchte es 20 Milliarden Euro. Investitionen in Bildung lohnen sich immer, das haben Ökonomen vielfach bestätigt.

Wir müssen auch generell über die Verteilung der Gelder reden. Bisher wird Geld nach Königsteiner Schlüssel verteilt, also nach Einwohnerzahl und pro Kopf. Sinnvoller wäre eine Verteilung nach Sozialindex, also nach Bedürftigkeit.

WELT: Kindern wird in Corona-Zeiten einiges abverlangt. Sie tragen die Infektion, aber erkranken selbst kaum. Und doch werden sie in ihren Bildungschancen stark beschnitten, damit Erwachsene geschützt werden. Ist das fair?

Tepe: Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das ist unstrittig. Ich kann auch das Bedürfnis der Eltern verstehen, ihre Kinder wieder zur Schule zu schicken. Aber Kinder haben auch ein Recht darauf, dass mit ihnen keine Versuche unternommen werden, nach dem Motto, schauen wir mal, was passiert. Wissenschaftlich tappen wir, was das Infektionsrisiko von Kindern und ihre Rolle als Verteiler des Virus angeht, teils noch im Dunkeln; solange das so ist, müssen wir Abstand halten. Man sieht das etwa gerade in Israel, wo wieder Tausende Schüler in Quarantäne geschickt werden, weil die Infektionszahlen an den Schulen stark gestiegen sind.LESEN SIE AUCH

Tepe: Die Lehrkräfte und die Institute für Lehrerfortbildung werden die Sommerferien sehr stark nutzen müssen, um zu überlegen, wie man gerade die Schülerinnen und Schüler, die viel versäumt haben, zusätzlich unterstützt. Sie müssen anders mit dem Lernen umgehen. Es geht natürlich nicht, dass die Lehrkräfte im neuen Schuljahr einfach inhaltlich weitermachen, als wäre nichts gewesen. Sie müssen ihren Unterricht sehr viel stärker individualisieren und die Schülerinnen und Schüler da abholen, wo sie stehen.

Lehrkräfte brauchen Zeit für gemeinsame Fortbildung, um Konzepte für ihre Schule zu entwickeln, damit sie die digitalen Medien noch besser als Hilfsmittel für bessere Differenzierung einsetzen können.

WELT: Nun kommen die Schüler nach Monaten, in denen sie notgedrungen individuell gearbeitet haben, wieder in den Unterricht und haben alle ganz unterschiedliche Lernstände. Zeigt das nicht, dass es mit mehr Individualisierung gerade nicht geht?

Tepe: Es ist nicht richtig, diese Ausnahmesituation mit individualisierendem Unterricht in den Schulen zu vergleichen. An den Schulen werden die Lernstände der Kinder erhoben. Die Lehrkräfte arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam an den Themen und auf unterschiedlichem Niveau analog oder digital vor allem gemeinsam weiter. Der direkte Kontakt macht da den großen Unterschied.

Auch das Lernen mit digitalen Werkzeugen braucht die Anleitung und Motivation durch die Lehrkraft. Jetzt muss die Zeit genutzt werden, um pädagogische Konzepte zu entwickeln und die technischen Voraussetzungen zu schaffen, damit nach den Sommerferien mit einem Mix aus Präsenz- und Fernunterricht ein qualitativ hochwertiger Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler angeboten werden kann.

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