„So kann sich die SPD als Volkspartei nicht halten“

Gewerkschaften attackieren die Sozialdemokraten wegen ihrer Industriepolitik. Der Daimler-Betriebsrat vermisst eine „ausgewogene Mitte“. DGB-Chef Hoffmann fordert: „Ihr müsst auch auf die Industrie und die Arbeitnehmer schauen, wenn ihr die AfD klein halten wollt“.

Eine Woche nach der Veröffentlichung des Konjunkturpakets der Bundesregierung reißt die Kritik der Gewerkschaften an den Sozialdemokraten nicht ab. Betriebsräte und führende Funktionäre verschiedener Arbeitnehmerverbände kritisieren die SPD für ihre Industriepolitik. Anders als von den Gewerkschaften verlangt hatten die Sozialdemokraten durchgesetzt, dass das Konjunkturprogramm zur Bekämpfung der Corona-Folgen keine allgemeine Kaufprämie für Neuwagen enthält, sondern ausschließlich die Förderung von Elektroautos vorsieht.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, sagte dieser Zeitung in Richtung SPD: „Ihr müsst auch auf die Industrie und die Arbeitnehmer schauen, wenn ihr die AfD klein halten wollt.“ Bis Ende 2020 erwartet er für die Autobranche keinen entscheidenden Impuls aus dem Konjunkturprogramm. „Und die Krise dauert länger als ein halbes Jahr.“

Es grassiert die Furcht vor der „schlimmsten Rezession in Friedenszeiten seit 100 Jahren“, wie es in einem OECD-Bericht heißt. Im April sanken die deutschen Exporte um 31 Prozent. 7,3 Millionen Menschen sind in Kurzarbeit. Mit dem Abbau von bis zu 100.000 Stellen rechnet allein die Autobranche. Deshalb sind Arbeitnehmervertreter entsetzt darüber, dass die SPD ein Programm mit stärkerer konjunktureller Breitenwirkung verhindert hat.

„Die SPD hat unsere Einwände nicht wahrgenommen“

Michael Brecht, der Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Daimler, sagte der WELT AM SONNTAG, die Parteispitze höre nicht zu, beantworte aber Fragen, die gar nicht gestellt worden seien. „Die ausgewogene Mitte fehlt“, sagt Brecht und konstatiert: „So kann sich die SPD als Volkspartei nicht halten.“ Den neuen Kurs der Parteiführung bezeichnete er als „linkspopulistisch“. Er frage sich, wer von den Beschäftigten in der Automobilindustrie noch die Sozialdemokraten wählen solle.

Auch der Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg, Roman Zitzelsberger, berichtet von „ernsthaftem Ärger“ in den Gewerkschaftsbezirken und bei den Betriebsräten der Autobranche: „Die SPD hat unsere Einwände nicht wahrgenommen“, sagte Zitzelsberger. „Es ist aber ein Fehler zu glauben, man könne die Technologie von morgen fördern, ohne das Hier und Heute zu stabilisieren.“ Zeige das Konjunkturpaket nicht die erhoffte Wirkung, müssten im Notfall finanzielle Hilfen nachgeschossen werden. „Insbesondere im Wahljahr 2021 wird kein Kanzlerkandidat Interesse an steigenden Arbeitslosenzahlen haben. Wobei es mir in erster Linie um die Beschäftigten und weniger um Wahlergebnisse geht.“LESEN SIE AUCH

Kritik an der einseitigen Bevorzugung von Elektroautos kommt auch aus der Energiewirtschaft. Für eine schnelle Steigerung der Produktion fehlten die Batterien, sagte Guntram Pehlke, Vizepräsident des Verbandes Kommunaler Unternehmen (VKU) für Energie. Auch sei die Frage der Entsorgung von Altbatterien völlig ungelöst. „Ökologisch macht die Umstellung auf E-Mobilität außerdem nur Sinn, wenn zum Laden der Batterien ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien verwendet wird“, sagte Pehlke und stellte fest: „Doch genau das verhindert die Politik gerade – mit länderspezifischen Abstandsregeln für Windenergieanlagen und einer Deckelung der Erzeugung von Solarstrom.“ Die SPD wolle „linker sein als die Linke und grüner als die Grünen“, sagte der VKU-Vize: „Aber ich glaube, im Zweifelsfall wählen die Leute das Original.“LESEN SIE AUCH

Im rot-rot-grünen Lager sieht man die Entwicklung der Sozialdemokratie ähnlich. „Eine Mitte-links-Regierung hat dann eine Chance, wenn jede der drei Parteien ihre Hausaufgaben macht“, sagte Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag. Es sei „nicht klug, wenn sich die SPD hart links oder besonders ökologisch gibt. Die Sozialdemokraten müssen die gesellschaftliche Mitte ansprechen.“

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet sagte im Interview dieser Zeitung: „Es war früher ein Grundsatz sozialdemokratischer Politik, fest an der Seite der Industriearbeiter, der Polizisten und anderer Arbeitnehmer zu stehen. Dass das in der SPD so leichtfertig aufgegeben wird, erstaunt mich.“ Die Art und Weise, wie sich Sozialdemokraten von dem Ziel eines Industrielandes Deutschland – sei es in Fragen der Industrie- oder der Energiepolitik – verabschiedeten, sei erstaunlich. „Für mich ist darüber hinaus irritierend, auf welche Weise die SPD-Vorsitzende über unsere Polizei und die innere Sicherheit spricht.“

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